Wilfried DickhoffWilfried Dickhoff

Für eine Kunst des Unmöglichen

Texte zur Gegenwartskunst 1983-2000

(For an Art of the Impossible – Essays on Contemporary Art 1983-2000)

Designed by Lars Heller, 460 Seiten/460 Pages
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Cologne 2001

Einleitung

(Für eine Kunst des Unmöglichen)

Vielleicht ist ein solches heroisches Akzeptieren der Nichtexistenz des großen Anderen heute die einzige wirklich radikal ethische Haltung, in der Kunst wie im "wirklichen Leben".

Slavoj Zizek

Warum aber ist das Unmögliche das, was das Werk wünscht, wenn es die Sorge seines eigenen Ursprungs geworden ist?

Maurice Blanchot

Die Kunst 1, von der in diesem Buch die Rede ist, ist insistierend irrealistisch, "sie hält das Begehren des Unmöglichen für vernünftig" 2. Diese Formulierung, auf die ich Ende der siebziger Jahre in einem Vortrag Roland Barthes stieß, markiert einen der begrifflichen Anstöße für meinen Einstieg in Kunsttheorie, Kunstkritik, Buchproduktion und kuratorische Praxis Anfang der achtziger Jahre. Ich bin seitdem und nach wie vor an einer Kunst interessiert, die für Vernunftideen des Unmöglichen ein-steht und dafür, unabhängig von allen Determinationsausreden, gerade-steht. Ich möchte eine Kunst des Unmöglichen in Aussicht stellen, die mit dem Ende der Kunst ein Ende macht.

Anlaß zu einer solchen Aussicht geben Arbeiten zeitgenössischer KünstlerInnen, mit denen ich nicht gerechnet habe, kohärente Deformationen, notwendige Abwesenheiten, groteske Anomalien, irreale Gegenwärtigkeiten, noble Verwindungen und andere nicht transzendentale Intensitäten. Einige dieser Arbeiten sehen so aus, als ob es dennoch möglich wäre: eine Kunst als Gegenwärtigkeit von Intensitätsdifferenzen, als nicht metaphysische Präsenz von Differenz, die die Unmöglichkeit von Gerechtigkeit, Freiheit, Subjektivität und Souveränität als unakzeptabel erscheinen läßt. Ich möchte eine Kunst annehmen, die etwas anderes ankündigt, eine Kunst, die, in Bezug zur Katastrophe "Mensch", Überraschungen generiert, die innerhalb der symbolischen Ordnung nicht vorgesehen sind, eine Kunst als materielles Ereignis einer Revolte, deren Augenblicke bezeugen, daß die globalkapitalistische Spektakelkultur nicht alles gewesen sein kann.

In den Texten dieses Buches ist von Arbeiten die Rede, die eine solche Kunst vorgezeichnet haben könnten, trotz allem, was dagegen spricht, und alles spricht dagegen, vor allem die Lage des "wirklichen Lebens" und die Lage der Kunst im Verhältnis zu dieser. Zur Erinnerung: Irgendwann im Verlauf der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hat die unerträgliche Selbstverständlichkeit des "realen Scheins" die Kunst eingeholt. Seitdem vegetiert sie, institutionsgestützte Autonomieillusionen, ideologische Versöhnungsprogramme und andere Kunst-Lügen reproduzierend, als Variante einer glücksverheißenden Eventkultur vor sich hin. Selbst als intelligent zynische Dekorationshure hat sie mir noch besser gefallen. Da hatte sie zumindest noch den Stolz einer Ware, die weiß, daß sie sich als Illusionsinkarnat verkauft und die Macht, das Mißverhältnis zwischen Scheinwert und Geldwert gegen den Dekorationswert auszuspielen. Aber welche Illusionen hätte sie heute noch anzubieten? Ihr hypermoderner Antiillusionismus hat sie nicht realer gemacht, sondern lediglich der Hyperrealität einverleibt. Beladen mit Schuldgefühlen aller Art hat sie sich als "gutgemeinte Ware" einer warenfetischistischen Attrappengesellschaft ergeben. Selbst ihre kritisch konzeptuellen und sozialbezogenen Beiträge reproduzieren genau die visuelle Indifferenz, die sie zu vermeiden, zu kritisieren, zu verschieben oder zu überfliegen suchen. Das Ende der Kunst, das bereits Hegel ankündigte, scheint sich weiter zu verewigen, in Form blinder Bilderproduktionen wie in Form selbstreflexiver visueller Bildervermeidungsproduktionen. Dem Bewegungsgesetz der Mode, der ewigen Wiederkehr des Neuen, gehorchend, nässt sich die "Fabrikation der Fiktionen" (Carl Einstein) farbenfroh durch die Institutionen (die ihre hypermodernen Kunsteffekte als "Kunst" beglaubigen) und andere Dienstleistungsunternehmen zur Befriedigung von "Erlebnistrunkenboldigkeit" (Martin Heidegger). Kunst heute ist keine Verräumlichung des reinen autonomen Anderen (mehr?). Ihre idealistischen Gründe und visionären Perspektivismen sind verbraucht oder werden multimedial verwischt und verfügbar gemacht. "Kunst" scheint endgültig alles andere geworden zu sein: Spektakeleffekt, Religionsersatz, New Age Illustration, institutionalisierter Pausenclown, Vollstrecker des Über-Ichs, Tochterfirma der Erlebnisindustrie, mystifizierende Inthronisierung des Künstler-Ichs, Bilderlieferant für Habitusmärkte, Popanz des sogenannten Kreativen, Analogon für Ersatzbefriedigungen von (Sinn-)Sehnsüchten, die im "wirklichen Leben" nicht aufgehen und Zufluchtsort metaphysischer Nostalgien aller Art.

Von dieser Lage der Kunst ist auszugehen 3. Nichts von dem, was heute unter Kunst läuft, ist nicht auch das. Es gibt kein Außerhalb dieser nicht zuletzt auch ökonomischen Situation. Selbst wenn Kunst sich außerhalb des Gesetzes stellte, verbliebe sie doch in seinem Raum. Der marktgesetzlich verbürgte Kunstraum heute ist Erlebnisraum. Die Produktionen, die in diesem Raum als Kunst gelten, stehen unter dem Diktat des Events, dessen Maßstab noch nicht mal das "erfolgreich" eingetretene Erlebnis ist, sondern das Erfolgserlebnis der Kasse, die damit gemacht wird. Das Erlebnis bildet sich jeder "Besucher" für sich selbst ein. Davon kann der Veranstalter ausgehen, denn ohne eins, könnte der Besucher nicht nach Hause gehen, ohne daß ihm da vor lauter Leere die Decke auf den Kopf fiele. Das gleiche gilt allerdings heute auch für den sogenannten Künstler. Mit großen Verkaufs- und Identitätshoffnungen kommt er den Mystifikationen der Kunst mit Selbstmystifikation entgegen. Aber so sehr die eventkapitalistische Lage der Kunst(bedürfnisse), selbst in den Formstrukturen jedes "Einzelwerks", präsent und unaussetzbar ist: Kunst interessiert mich nur, wenn sie dennoch wider-steht, wenn sie sich nicht in "affirmativen" oder "kritischen" Illustrationen des kapitalistischen Elends ereignisvergessener Erlebnisproduktion erschöpft und dieses Elend nicht "als Fehler des Welten-Schicksals in’s Grosse umdeutet" 4, sondern, "wissend", daß sie (selbst in ihren intelligentesten Formen von Selbst-Demystifikation) nur den Dreck ihrer eigenen Kontext-Pfütze zerspritzt, sichtbar zeigt, daß es nicht nur um nichts geht. Mich interessiert eine Kunst, die die Unmöglichkeit in allem sieht, sie niemals aus den Augen verliert, aber in jeder ihrer Nuancen auf Möglichkeiten des Unmöglichen gerichtet ist.

Eine derart interessante Kunst ist ein unmögliches Unterfangen auf verlorenem Posten. Sie hat es mit einer doppelten Unmöglichkeit zu tun, der ihrer selbst als Gabe, als Zu-sehen-geben überraschender Blicke jenseits des Scheins und der creatio ex nihilo, die dazu erforderlich wäre 5. Es gibt Sprachlosigkeiten, die Artikulationen notwendig machen, die unmöglich sind. Das Sprechen des Unmöglichen ist selber unmöglich. Aber könnte nicht gerade diese doppelte Unmöglichkeit, als erlebte Notwendigkeit von Möglichkeit, Formationen einer insistierenden Widerständigkeit hervortreiben? Könnte die Möglichkeit einer ihrer Autonomieillusionen bewußten Kunst nicht gerade von ihrer Unmöglichkeit ausgehen? Könnte der verlorene Posten nicht Nährboden für Hoffnungskonstruktionen sein, die ohne Ignoranz auskommen?

Mich interessiert eine Kunst, die die Lage (und nicht nur ihre) mit allen ihr zur Verfügung stehenden und immer wieder neu zu erfindenden Mitteln pariert. Eine Kunst des Parierens ist nicht defensiv, sie ist nicht-passives Aushalten der Aporien. Sie tritt das Erbe der Kritik an, indem sie durch Aporien hindurch eine nicht positive Affirmation erscheinen läßt 6. Eine Kunst des Parierens ist unendlich variierendes Austragen ihrer tragenden Widersprüche. Sie verrät ihre Widersprüche an kein Identitätsdenken und an keine ästhetische Versöhnungsideolgie, sondern hält sie in Spannung. Ihre Setzungen, materielle Übergriffe, die ihre Entzweiung von Politik und Wissen widerständig und eigenständig insistierend auskämpfen, sind unmögliche Setzungen, denn wären sie möglich, wären sie nur Vollzug der Regeln des Bestehenden. Ihre Entscheidungen, in gewissenhafter Unentschiedenheit getroffen, sind unmögliche Vorzeichnungen und Vorentscheidungen, deplazierte Antworten auf Fragen, die ihr keiner gestellt hat.

Eine Kunst des Unmöglichen ist Konstruktion von Hoffnung, wo es keinen Anlaß zur Hoffnung gibt. Daraus jedoch ein Prinzip Hoffnung abzuleiten wäre unverantwortlich, denn nichts spricht dafür, daß diese Hoffnung begründet ist. Die Katastrophe als permanenter Zustand ist realer, naheliegender und wahr-scheinlicher. Eine Kunst des Unmöglichen ist Hoffnungskonstruktion ohne Illusion. Sie sagt Beginn, wo Ende herrscht. Ihre Insistenz gründet in der Verweigerung, die reflexive Wende der "Ur-Verdrängung" zu vollziehen, die darin besteht, daß sich die Unmöglichkeit, ein Begehren befriedigen zu können in das Begehren verkehrt, das Begehren nicht zu befriedigen 7.

Mein Insistieren auf eine Kunst des Unmöglichen ist mit der Unterstellung verbunden, daß ihre vorläufigen Ergebnisse, ihre vorzeichnenden materiellen Ereignisse, interessant sind. Aber was heißt hier "interessant"? Interessant ist zunächst einmal alles, was mich überrascht, was ich so noch nicht gesehen habe, was mich (nicht unbedingt „etwas") angeht und irritiert, was zum Beispiel eine Nichtübereinstimmung mit mir selbst sichtbar einlöst oder vielleicht sogar auslöst. Voraussetzung dafür scheint mir zu sein, daß das, was mich interessiert, inter-essant ist, das heißt, daß sein Interessant-Sein ein inter-esse ist, etwas zwischen dem Sein, ein Zwischen-sein, ein Dazwischen-sein, zum Beispiel ein Zwischen-den-Dualismen-Hindurchgehen, eine Negativität ohne Negativität oder ein nichtidentisches Zu-Grunde-gehen der Kunst. Aber eine solche Kunst ist nur interessant, wenn sie, in Form eines materiellen Ereignisses für sich stehend, auf Andere hin offen ist, wenn sie von der Ambition getragen ist, für-sich-für-andere zu sein, wenn sie die Differenz zwischen Ich und Sich, die Nichtübereinstimmung des Identischen, derart aufklaffen läßt, daß ein Vexierbild von Nicht-Indifferenz gegenüber den (anderen) Menschen in Erscheinung tritt 8. Emmanuel Lévinas nennt diese Intention „dés-intér-essement", ein „Sich-vom-Sein-Entziehen". „Aber was heißt das dés-intér-essement? Es heißt die Figur finden, wo so etwas ein Moment ist, wo zum Beispiel das Für-Andere-verantwortlich-sein ist – die Figur des dés-intér-essement."9 Das Des-inter-esse gegenüber dem angstschlotternden Interesse an der Identität und den ästhetischen Formen ihrer Absicherung und Rückversicherung ist Voraussetzung für etwas Interessantes, das heißt für etwas Nichtgleichgültiges. Der Standpunkt, etwas Interessantes zu sehen zu geben, ist Übernahme einer Verantwortlichkeit der Form, die polyloge Differenzbildungen nicht als indifferente Zerstreuungen, sondern als Vexierbilder von Nicht-Indifferenz entwirft, zum Beispiel nichtmetaphysische Gegenwärtigkeiten einer Nichtgleichgültigkeit hinsichtlich des Nichtidentischen in uns und außer uns, das heißt gegenüber dem Fremden, das wir uns selbst sind und das uns die anderen Menschen und Lebewesen sind. Das scheint eine Plattheit zu sein. Aber angesichts der Tatsache, daß die dominierende Kunstindustrie der Aufrechterhaltung äußerst schlichter Mystizismen von "Subjektivität" und anderen verlorenen Idealismen dient, ist darauf immer wieder neu zu bestehen. Was, wenn das, was heute als Kunst gilt, nur Effekte von Nichtidentität produzierte, damit aber (wenn auch wider Willen) nur die Identitätsillusionen bestärkt, die sie, im ungefährdet Ästhetischen "postmoderner" Manier, bloß dekorativ multipliziert? Was, wenn das Elend der Kunst-Ironie darin besteht, das ästhetische Umgehen von Gefährdung als Subjektzerstreuung zu verkaufen?

Die Frage einer Verantwortlichkeit der Form und des damit verbundenen Unmöglichkeitsbegehrens stellt sich in jedem Heute neu, solange die Lage so ist, wie sie ist: unmenschlich, ungerecht, katastrophal und potentiell barbarisch. Die Kunst schuldet das Unmögliche, sich für uns. Damit stellt sich noch einmal die Frage nach einer ethischen Haltung der Kunst. Was könnte das sein? In seinen letzten Gesprächen mit Benny Lévy sieht Jean-Paul Sartre Moralität in einer Obligation angelegt, die als innere Forderung das Bewußtsein (er nennt es "le vécu", die gelebte Erfahrung) (beg)leitet. Sartre nimmt ein "Bewußtsein für den anderen" an und unterstellt so noch einmal eine praktische Vernunft, die sich, geleitet von Vernunftideen, im Namen eines großzügiger gedachten individuellen Allgemeinen, querstellt. In diese Richtung bewegt sich zur Zeit mehr von der Kunst aus als im "wirklichen Leben". Warum? Vielleicht weil der Kampf der Kunst mit dem Chaos lediglich das "Instrument eines tiefgründigeren Kampfes gegen die Meinung" 10 ist, von der, wie ich mit Félix Guattari behaupten möchte, das Unglück der Menschen herrührt. Und mit Slavoj Zizek bin ich der Überzeugung, daß ein ethischer Akt "eine Überschreitung der Gesetzesnorm (ist) – eine Überschreitung, die im Gegensatz zu einem kriminellen Rechtsbruch nicht einfach nur die Gesetzesnorm verletzt, sondern vielmehr neu definiert, was eine Gesetzesnorm IST. 11. Das gilt (im Reich des Scheins) mehr denn je auch und gerade für die Kunst. Deren ethischer Akt besteht in einem gezielt amoralischen Heraus-Stellen eines singulären Empfindungsblocks, der im Rahmen der Spielregeln herrschender Harmonien nicht zählt, der nicht das Schöne, Wahre und Gute dekorativ reproduziert, sondern eine neue Form dessen, was als Kunst gelten könnte, (voraus)setzt und dessen, was als Schönheit gelten könnte, vor-scheint. Der ethische Akt der Kunst kommt vom Gegenpol der moralischen Handlung. Er ist eine amoralische Danebensetzung, ein Insistieren auf Nichtidentität und irreduzible Differenz, dessen (nur selten) glückliche "künstlerische" Formationen vielleicht eines Tages als Beiträge zur Eröffnung eines Raums befreiter Subjektivität 12 zu Buche und zu Bilde schlagen könnten. Solche glücklichen Formationen setzen eine Kunst der Demystifizierung und Dekonstruktion aller Stereotypien von Subjektivität und aller identitätsstabilisierenden "Kreativitäts"-Dienstleistungen voraus, die heute als Kunst gelten. Forcierte De-Konstruktion, radikales Insistieren auf irreduzible Differenz und entschiedene Unentschiedenheit sind nicht die Alternative zum Wagnis einer Kunst politischer Entschiedenheit, sondern die Bedingung ihrer Möglichkeit als Bedingung der Unmöglichkeit, um die es nach wie vor geht, wenn wir die Möglichkeit von Verantwortung und Entscheidung nicht kampflos preisgeben wollen. Einzig aus einer "Selbstbeschleunigung der absoluten Singularität" 13 heraus könnten irreduzible DifferenzBILDungen an Entscheidungsursprünge von Verantwortlichkeit rühren und diese noch einmal neu in Bild-Bewegung bringen.

Der ethische Akt der Kunst ist weiblich. Vielleicht eine Antigone im Reich des Scheins, wie das Bild, das Anna Karina in der Rolle der Natacha von Braun in Jean-Luc Godards Science-Fiction Film "Aplphaville" (14) abgibt, wenn sie, am Fenster stehend, Paul Éluards Buch "Capitale de la douleur" dem omnipräsenten computergesteuerten Machtapparat entgegenhält. Sie tut das mit der Anmut einer Frau, die die Entscheidung zur Entscheidung schon gefällt hat. Wir sehen sie im Augenblick ihrer Intervention. Was sie dem allmächtigen Überwachungscomputer, der "Alphaville" kontrolliert, zu lesen gibt, ist das Kapital poetisch verwundener Schmerzen, verkrafteter Verletzungen, parierten Scheiterns. Ihr Gesichtsausdruck zeigt keine Spuren des Verwundenen mehr. Sie steht bereits außerhalb der symbolische Ordnung, schön, gelassenen und souverän im Risiko ihrer Überschreitung. Der von ihrem Vater, einem Wissenschaftler im Dienst der Diktatur, entwickelte Kontrollcomputer "Alpha 60" kann diese poetischen Zeichen nicht entziffern. Wörter wie Liebe, Bewußtsein und Leiden, die längst aus den Lexika und den Köpfen der techno-faschistisch gesteuerten Einwohner "Alphavilles" ausgemerzt sind, kann er nicht verarbeiten und verkraften. Viren gleich zerstören sie die Maschine und das ganze Machtsystem bricht in sich zusammen. Aber Godards Film hat kein Happy End. Für Natacha und Lemmy Caution, der "gute Agent", dessen subversives Handeln den Umsturz einleitet, ist es zu spät, um "Alphaville" noch verlassen zu können.

Wofür ist es hier und heute zu spät oder vielleicht doch nie zu spät? Wie steht es mit der Kunst und der symbolischen Ordnung in (unserer?) "Wirklichkeit"? Wie steht die Kunst zur Universalisierung von Spektakelindustrie, Kapitaldominanz, Geldabstraktion und medialer Zwangskommunikation, die jede Verbindung und jede Begegnung auslöscht? Wie könnte eine Verräumlichung ihrer Widerständigkeit aussehen? Verlangt man zuviel von der Kunst, wenn man ihr die absolute Entscheidung Antigones abverlangt? Vielleicht artikuliert sich im Bild einer Kassandra im Reich des Vor-Scheins ein kunst-gerechterer ethischer Irrealismus. Die Troerin Kassandra, die als verrückt galt, weil sie in unverständlichen Bildern unvorstellbare Vorahnungen und unglaubwürdige Zukunftsvsionen in hysterischen Lautmalereien verkündete, die ihr kein Mensch abnahm, die aber alle eintraten, ist ein schönes Bild für eine nichtidentische, nichtmännliche Widerständigkeit von Kunst. Die Gabe des Wahrsagens hatte ihr Apollo dafür versprochen, daß sie mit ihm schläft. Sie hat sich ihm daraufhin so glaubwürdig angeboten, daß er sie vorab bezahlte, woraufhin sie den Beischlaf verweigerte. Apollo konnte ihr die Fähigkeit des Wahrsagens nicht mehr nehmen, nahm ihr dafür aber die Glaubwürdigkeit. So wurde sie zur Visionärin, der keiner Glauben schenkt. Und nachdem Troja gefallen war, was sie vorausgesagt hatte, geht sie ohne Skrupel die Ehe mit Agamemnon, dem Führer der siegreichen Griechen, ein, wofür sie die Troer als verräterische Hure ächten, nicht wissend, was sie weiß, daß nämlich mit ihrer scheinbaren Hingabe der Untergang der Sieger seinen Lauf nimmt. Die Griechen werden alle (an ihrem Sieg) "verrecken" 15. Kassandras hysterische Amorailtät ist in Wahrheit der ethische Akt, der das Unrecht rächt. Ihr Körper geht als tödlicher Virus im Körper des Feindes auf, der daran zugrunde geht.

Die Kunst-Symbolik dieser heroischen Frau ist offensichtlich: Die Visionen der Kunst will auch keiner wahrhaben. Auch die Kunst entwirft in unverständlichen Bildern den Vor-Schein von etwas, das man ihr nicht abnimmt. Auch sie gilt im Nachhinein als visionär und wird posthum als prophetisch mystifiziert. Ihr Verhältnis zu dem, was als Wirklichkeit gilt, ist irrealistisch, im Hinblick auf unvordenkliche Möglichkeiten. Sie geht jeden Prostitutionsvertrag (mit Vorliebe mit Göttern) ein, der ihr ein Mehr an Vision, Vorstellungskraft und Entfaltung zukunftsträchtiger Bilder verspricht, aber ohne ihn zu halten. Die Kunst verdankt ihren Wahrheitsgehalt einem Prostitutionsvertrag, den sie bricht. Der Schein ist der Preis, den sie für ihren Wahrheitsgehalt bezahlt. Der Schein der Kunst trägt Züge von Trug, der bei den Menschen, die im "wirklichen Leben" stehen, auf Mißtrauen stößt. Dem bloßen Schein möglicher Wahrheiten glaubt man nicht. Die Kunst gilt daher nach wie vor als unglaubwürdig, als verrückt, unverständlich, hysterisch und unrealistisch verstiegen. Sie bedient (heute vielleicht mehr denn je) diese stereotypen Kunsterwartungen und biedert sich ihnen an, aber in der Überzeugung, daß der Wahrheitsgehalt ihrer Erscheinungen eines Tages dennoch zum Vorschein kommen wird. Sie geht davon aus, daß sie gegenüber dem Unrecht Recht behalten wird, und im Namen von Gerechtigkeit nimmt sie sich das Recht, so amoralisch zu sein, wie es ihre Vision erfordert. Da, wo ihre ethische Haltung im Kleid amoralischer Bildmächtigkeit auftritt, da, wo ihr srupelloser Irrealismus visionär ist, ist die Kunst eine Kassandra im Reich des Vor-Scheins. Ob ihre Umarmung der identitätsgeilen und warenfetischistischen Erlebnistrunkenboldigkeit eine tödliche Umarmung gewesen sein wird, ist allerdings äußerst fragwürdig?

Ich erwähne diese Bilder heroischer Frauenfiguren, um zumindest anzusprechen, in welchem Horizont von Gefährdung und Radikalität eine neue ethische Fundierung von Kunst einzig in den Blick kommen könnte. Eine radikale ethische Haltung von Kunst ist eine (politische?) Überforderung von Kunst, die mich interessiert. Die Frage, ob ein "heroisches Akzeptieren der Nichtexistenz des großen Anderen heute die einzige wirklich radikal ethische Haltung, in der Kunst wie im ‘wirklichen Leben’ " 16 ist, möchte ich hier nicht entscheiden, sondern vorläufig entschieden offen lassen.

Georges Bataille beschrieb die Neurose als Ahnung des Unmöglichen in allem (traurige Reaktion auf unerfüllte Liebe) und bestand demgegenüber auf einer souveränen Kunst, in der er die "äußerste Möglichkeit" 17 sah. Das möchte ich auch tun, aber in Anbetracht ihrer nicht ignorierbaren Fragwürdigkeit. Könnte eine Kunst des Unmöglichen ihre eigene Obsoletheit als obsolet erscheinen lassen? Vielleicht wenn sie das ausspielt, was die neurotischen Sublimierungskünste nur überspielen (zum Beispiel das Kapital der Einsamkeit, den Wunsch, etwas zu machen, wofür es sich gelohnt haben könnte oder das Begehren des Unmöglichen) und wenn sie die Überschreitungsstereotypie von Kunst in sich überschreitet und mitten im Einerlei der Kompensationsveranstaltungen, zu denen sie selbst gehört, die je äußerste Möglichkeit frei-stellt. Vielleicht ist das ein Kriterium für Kunst heute. Aber offen bleibt, ob ein souverän deplaziertes Dennoch, die äußerste Möglichkeit und das höchste Gefühl der Kunst ist oder ob sich in einer Kunst des Unmöglichen, da, wo sie den Wunsch zu wünschen vor Augen führt, eine Liebe, die immer ansteht und eine Politik, die immer aussteht, ankündigen.

Ich habe kleine materielle Ereignisse 18 "gesehen", die dafür sprechen. Kohlezeichnungen, Ölgemälde, kunstkritische Installationen, Fotografien und andere Interventionen, die zwar als Kunst gehandelt werden, ihren (Kunst-)Charakter aber daran haben, daß sie, als Anstoß und Fortführung von Fluchtlinien, die anders nicht raumgreifen könnten, das Risiko von visuell widerständigen Vorentscheidungen eingehen, die über sich selbst und ihre Selbstmystifikationen hinausgewünscht sind. Intervalle in der Signifikantenstruktur, Zwischen-Architekturen im Erlebnisraum, unverhoffte Singularitäten, die da, wo sie wahre Setzungen sind, Augenblicke von Nichtverlogenheit und Figurationen möglicher Wahrheitssetzungen sein könnten.

Eine Kunst des Unmöglichen forciert immer mehr an Unmöglichem. Sie ist, wenn eine irreduzible Differenz derart Bild wird, daß sie als Nicht-Indifferenz angeht. Ein Nicht-indifferent-Werden von Intensitätsdifferenz wäre zu schön, um wahr zu sein, denn es bezeugte ein irrealistisches Sprechen, das sich als politischer erweisen könnte als Realpolitik vermag. Eine Kunst des Unmöglichen stellt Kleider unsichtbarer Körper her, in denen das Begehren des Unmöglichen sich sehen lassen kann. Sie ist verschwistert mit einer Politik des Begehrens und solidarisch mit Liebe und Mathematik 19. Entweder die Kunst nimmt Formen an, die als nichtmetaphysische Präsenz von Nicht-Indifferenz Möglichkeiten des Unmöglichen ankündigen oder sie ist nicht interessant, weil nicht des-inter-essant.

Die Texte dieses Buches, die zwischen 1983 und 2000 an Fronten kleiner Kunstkriege entstanden sind, an denen ich beteiligt war, verfolgen Spuren des-inter-essanter Kunst, im Hinblick auf Möglichkeiten einer Kunst des Unmöglichen. Sie tun das angesichts von Arbeiten "zeitgenössischer" KünstlerInnen, die irrealistisch begründeten Anlaß dazu geben.

Anmerkungen